Jean-Paul Dumas-Grillet entwickelt seine Fotografien in einer Dialektik des Zeigens und Verbergens.
(von Heike Eipeldauer)
Seine konzentrierten, atmosphärisch dichten Bilder der letzten Jahre – es handelt sich um digitale Fotografien, die zwischen 2006 und 2009 entstanden – deuten oftmals den Blick aus dem Fenster an, wobei dieses zumeist als dunkle Rahmung oder als Einfassung durch ein Fensterkreuz angedeutet wird. Spätestens seit der Romantik evoziert das Fenster die subjektive Bedingung einer jeden Beobachtung – wir nehmen die Welt in Bildern wahr. Gleichzeitig hat kaum eine Metapher das Denken über Bilder so geprägt wie Leon Battista Albertis berühmter Vergleich des Bildes mit einem geöffneten Fenster, das den Durchblick auf eine sich jenseits der Bildgrenzen ausdehnende Welt freigibt. Diese Vorstellung geht von einer Transparenz des Bildes aus, die die Überwindung der Materialität des Mediums voraussetzt.
Wie ein Echo der tatsächlichen Bildgrenzen verdoppelt der Fensterrahmen den Bildausschnitt des Fotos als Spalt im Raumkontinuum. Er strukturiert das Blickfeld, dient als Einstieg ins Bild und impliziert den Blick von Innen nach Außen, von einem Kultur- auf einen Naturraum – lichte Schneelandschaften, Meeresoberflächen, amorphe, schwer fixierbare Naturphänomene wie Luft, Licht und Wasser, die optisch nach vorne drängen, um wieder zurückzuspringen. Oder es handelt sich schlichtweg um die karge 50er Jahre-Fassade, die der Münchner Wohnung des Fotografen gegenüberliegt, selbst durch Fenster strukturiert, die unseren „vorgerahmten“ Blick selbstreflexiv spiegeln. In der Schichtung von Rahmungen, Einfassungen und zart nuancierten Flächenformen erreichen die Fotografien zuweilen einen Grad an kompositorischer Bestimmtheit, der an Vorbilder abstrakter Malerei erinnert und von Dumas-Grillets Beschäftigung mit dem Malerischen als Dimension der Fotografie zeugt. Dennoch blitzen im abstrakten Bildgefüge immer wieder Spuren menschlicher Alltagshandlungen auf – so entdecken wir beispielsweise, dass das Fenster der gegenüberliegenden Fassade geöffnet ist.
Dumas-Grillet entwirft seine Fotografien als Wechselspiel von Rahmungen und Durchbrechungen des Rahmens, als sukzessive Verschiebung von Grenzen. Nicht das Fenster als Motiv steht im Mittelpunkt, sondern seine Qualität als Schwelle der Sphären eines Davor und Dahinter, eines Innen und Außen, eines Gesehenen und Ungesehenen, die ihrerseits mit dem fotografischen Medium als vermittelndem „Dazwischen“ korrespondiert. Scheinbar nebensächliche Bilddetails – wie etwa ein Sticker – lenken den Blick auf die Bildoberfläche und fixieren das Paradox einer zugleich gegebenen und entzogenen Sichtbarkeit. Während der Rahmen als Grenze eine rigide geometrische Figur entstehen lässt, fungiert die Bildebene als eine fragile Zone, in der die Spannung zwischen transparenter Oberfläche und dem Schleier des Mediums immer wieder neu beschworen wird. Die Fotografie selbst ist einem Schleier vergleichbar, in seiner ambivalenten Struktur von Ver- und Enthüllen, von Präsenz und Absenz, von Mangel und Begehren. Davon zeugt auch die Begrifflichkeit der Fotografie, die von der Schleier-Metaphorik geradezu durchsetzt ist, wie der Künstler immer wieder betont: so bezeichnet das französische Wort „reveler“ (enthüllen) den Prozess, in dem das Fotopapier aus dem Entwicklerbad genommen und zum Bild wird; „voiler“ (verschleiern) steht für die ungewollte Belichtung, den diffusen Schleier der sich dadurch auf das Fotopapier legt usw. Wenn Dumas-Grillet seine Bildoberflächen zusätzlich mit einer darüber gelegten grauen Schicht eintüncht, so insistiert er darauf, dass der Schleier des Mediums nicht zu lüften ist, sondern im Gegenteil die Repräsentation erst hervorbringt: „La représentation est donc un voile, le voile une représentation.“[1]
[1] Jacques Derrida, Glas II: Que reste-t-il du savoir absolu?, Paris 1981, S. 355, zit. nach: Johannes Endres, Barbara Wittmann, Gerhard Wolf (Hrsg.), Ikonologie des Zwischenraums. Der Schleier als Medium und Metapher, München 2005, S. 15.